Eiskunstlaufen zählt zu den frühspezialisierenden Sportarten, in denen Sportler*innen bereits in sehr jungem Alter Leistungssport betreiben. Umso wichtiger ist es, dem Nachwuchs ein sicheres und gewaltfreies Trainingsumfeld zu bieten. In der Verantwortung stehen Verband, Betreuer*innen, Trainer*innen und auch Eltern. Die Deutsche Eislauf-Union (DEU) nimmt das Thema mit der neuen Safe Sport-Beauftragten Angelika Ullm verstärkt in den Fokus und will die Eiskunstlauf-Community dafür sensibilisieren.
Der Bereich Safe Sport steht seit 2018 mit Einführung der Leitlinie zur Prävention sexualisierter Gewalt und des Ehrenkodex auf der Agenda der DEU und ist Bestandteil der DEU-Trainerausbildungen, DEU-Mitarbeiterschulungen und Offiziellen-Ausbildungen. Mit der neuen Safe Sport-Beauftragten Angelika Ullm, die seit Mitte des Jahres mit dem bisherigen Beauftragten Jens ter Laak ein Team bildet, setzt sich die DEU noch stärker für das Thema ein. „Es ist sehr wichtig, dass wir unseren Sportler*innen, die zum Großteil minderjährig sind, ein sicheres und gewaltfreies Trainingsumfeld bieten und sie schützen, damit sie ihren Sport ausüben und sich gut entwickeln können", sagt die Ärztin und ISU-Preisrichterin. "Die psychische Gesundheit ist dabei genauso wichtig wie die körperliche Gesundheit."
Die beiden DEU-Safe Sport-Beauftragten stehen als Ansprechpartner für alle Sportler*innen zur Verfügung, aber auch für Trainer*innen und Betreuer*innen, die Fälle der Grenzüberschreitung als Außenstehende bemerken. Sie prüfen die Zuständigkeit und können bei Bedarf Ansprechpersonen außerhalb der DEU vermitteln. Als Anästhesistin und Notfallmedizinerin ist Angelika Ullm erfahren darin, mit sensiblen Themen und Schweigepflicht umzugehen und bei einem fairen Umgang mit allen Beteiligten die richtige Diagnose zu finden. Besonders am Herzen liegt ihr die Prävention und Aufklärung: "Die Sensibilisierung für Safe Sport muss in der gesamten Eiskunstlauf-Gemeinschaft erfolgen, vom Spitzenverband bis zu den Landesverbänden und Vereinen.“
Sensibilisierung für vier Formen der Gewalt
Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat die Prävention sexualisierter Gewalt (PSG) in seiner Begrifflichkeit erweitert. Safe Sport umfasst neben der sexualisierten und körperlichen Gewalt, auch emotionale/psychische Gewalt sowie Verwahrlosung, was die Ignoranz von Grundbedürfnissen meint. Statistiken zeigen, dass sowohl im Breiten- als auch Leistungssport in den verschiedensten Altersbereichen jeder siebte bis achte Sportler Gewalterfahrungen macht. Dabei ist nicht eine Sportart an der Gewalt schuld, oft sind es Einzelpersonen, die das System für ihre Gewaltanwendung ausnützen. Der größere Anteil der Täter - etwa im Bereich der sexualisierten Gewalt - kommt laut Statistiken aus dem privaten Umfeld (Familie und Verwandtschaft). Das sportliche Feld ist hier gefordert, aufmerksam zu sein und im Fall der Fälle ein Unterstützungs- und Hilfesystem zu aktivieren.
"Die prägende Phase im Erwachsenwerden von Kindern und Jugendlichen soll in einem möglichst Gesundheit und Wohlbefinden förderlichem Umfeld stattfinden", sagt die Psychologin Constanze Stolz-Klingenberg, die Safe Sport-Mitarbeiter- und Trainerschulungen für Sportverbände wie die DEU mit der Intention „Selbstreflexion statt Anprangern“ durchführt. „Einige Trainingspraktiken, die in den Bereich der vier Gewaltformen fallen, waren vor 10 bis 15 Jahren noch sozial anerkannt.“ Zum Beispiel Straf-Liegestützen vor der ganzen Trainingsgruppe für Sportler*innen, die zu spät zum Training kommen, als Mittel der Erziehung von Pünktlichkeit. „Heute würde man prüfend fragen: Ist das noch zeitgemäß? Gibt es hier nicht alternative Umgangsformen, die trotzdem dazu führen, dass man Pünktlichkeit vermitteln kann?“
Die Psychologin möchte Trainer*innen und Betreuer*innen zur Reflexion ihrer Verhaltensweisen, Werte und Philosophie bewegen, anstatt zu beschuldigen. „Die Hierarchie zwischen Trainer*innen und Sportler*innen hat sich weiterentwickelt, die Art der Zusammenarbeit ist ein Aushandlungsprozess geworden“, sagt Stolz-Klingenberg. Das meint Begegnung auf Augenhöhe, Respekt, Wertschätzung, die Möglichkeit, Dinge offen anzusprechen. „Ich bin ein Fan davon, im Team zu prüfen, was Leistungssportler*innen brauchen, um lange dabeizubleiben, um die Motivation und Zielstrebigkeit zu entwickeln, einmal an Olympischen Spielen teilnehmen zu wollen.“
ISU-Kongress: Gracie Gold über Mental Health
Auch beim Kongress der International Skating Union (ISU) Mitte Juni in Las Vegas (USA) stand das Thema Safe Sport auf der Tagesordnung. Die ISU hat den Schutz, die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Athlet*innen in den Mittelpunkt ihrer Vision 2030 gestellt und will deren Umsetzung in den Mitgliedsverbänden fördern.
Zu dem Punkt sprach beim Kongress die zweimalige US-Meisterin Gracie Gold (Foto: ISU), die kürzlich ein Buch mit dem Titel „OutofShapeWorthlessLoser – A Memoir of Figure Skating, F*cking Up And Figuring It Out“ veröffentlicht hat, und darin ihre zweiseitige Geschichte vom Eiskunstlaufen schildert. Die Olympia-Dritte von 2018 berichtete von immensem Druck und psychischen Problemen, denen sie als Eisläuferin ausgesetzt war. Und darüber, wie junge Sportler*innen, die mit mentalen Problemen zu kämpfen haben, besser unterstützt werden können. „Die psychische Gesundheit ist so wichtig wie die körperliche Gesundheit und sollte genauso ernst genommen werden“, sagte Gold, die u.a. unter Essstörungen, Depressionen und Perfektionismus litt. „Für die jüngere Generation kann es sehr bedeutsam sein, über psychische Gesundheit und ihre Folgen aufgeklärt zu werden.“ Für die Zeit während und nach dem Sport.
Besonders in der Pubertät geht es für Sportler*innen darum, einen positiven Umgang mit sich selbst und ihrem Körper zu finden. Äußerliche Gewalteinwirkung – ob körperlich oder emotional, kann dies negativ beeinflussen. Die Auswirkungen können gerade bei sensiblen Sportler*innen weitreichend sein. Als Folgen treten Essstörungen (Bulimie, Magersucht), Depressionen, Angststörungen oder bei gravierenden sexuellen Übergriffen auch posttraumatische Belastungsstörungen auf, die Betroffene ein Leben lang begleiten können.
Aufmerksamkeit gegenüber Grenzüberschreitungen
Zwischen Sportler*innen und Trainer*innen besteht häufig ein Abhängigkeitsverhältnis, bei dem der Coach zu weit gehen kann und der Athlet eher mitmacht als Nein sagt. Dabei ist Gewalterfahrung auch subjektiv. Was für den einen Sportler schon zu viel ist, ist für den anderen Sportler noch akzeptabel. „Oftmals sind die Eiskunstläufer*innen zu jung, um einschätzen zu können, ob das in Ordnung ist, was Trainer*innen oder Funktionäre von sich geben. Sie sind auf die Einschätzung anderer – von Eltern, Trainingspartnern, außenstehenden Personen – angewiesen,“ erklärt DEU-Verbandspsychologin Carolina Chon. „Während Trainer*innen im Leistungssport die Rolle haben, im Training auch mal fordern zu dürfen, haben Eltern die Aufgabe, ihre Kinder zu unterstützen und zu beschützen und mit ihnen gemeinsam durch Herausforderungen zu gehen.“ Das heißt: Aufmerksam sein, ob bei ihren Kindern im Training alles okay ist oder von Trainer*innen Grenzen überschritten werden, und sich bei Grenzüberschreitungen an die verantwortlichen Personen wenden. Im Laufe der Zeit sollten Athlet*innen außerdem dazu ermutigt werden, selbst ihre Grenzen zu erspüren und aufzuzeigen.
Die Verbandspsychologin sieht sich als Vertrauensperson, um betroffenen Sportler*innen zu helfen und bei Bedarf neutral zwischen der Opfer- und Täter-Seite zu vermitteln. Nach ihrer Erfahrung gibt es nicht immer klar den Täter und das Opfer, sondern auch kompliziertere Fälle mit Grauzonen. „Solange der Erfolg da ist, werden die Mittel als angemessen empfunden. Ist der Erfolg nicht mehr da, sind die Mittel nicht mehr in Ordnung“, berichtet Carolina Chon. So kommen Anschuldigungen teils nicht im Moment der Vorfälle, sondern erst Jahre später ans Licht und sind in ihrer Wahrnehmung stark von der Gegenwart beeinflusst. „Unsere Erinnerung ist nicht wie eine Festplatte, auf der wir ein Foto abspeichern und in gleicher Qualität Jahre später wieder aufrufen können.“
Ganzheitlich gesunde Entwicklung und positive Leistungskultur
Um solchen Fällen möglichst vorzubeugen, ist der Punkt Safe Sport Baustein des Konzepts, langfristig ganzheitlich gesunde Athlet*innen zu entwickeln. Flexibilität nennt Carolina Chon als ein Stichwort. Das bedeutet für die Sportart Eiskunstlaufen, dass nicht zu jeder Zeit gesprungen und intensiv trainiert wird, sondern dass die Trainingsmethoden angepasst und richtig dosiert werden. Nicht jede Methode und Technik erzielt bei allen Sportler*innen den gleichen Erfolg. Individualität, Empathie und ein gutes Auge des Coaches sind gefragt: Was bringt der/die Sportler*in an Voraussetzungen mit? Ist er/sie eher robust oder sensibel? Was braucht er/sie und was kann ich ihm/ihr wie beibringen?
Mit zunehmendem Alter der Athlet*innen werden die Herausforderungen im Leistungssport größer, beispielsweise mit dem Erlernen der Dreifachsprünge. Auf diese Belastungen gilt es nicht nur den Körper athletisch vorzubereiten, sondern auch den Kopf einzustellen. Einen gesunden Umgang mit steigendem Druck können Kinder durch den Aufbau von innerer Stärke und Widerstandsfähigkeit lernen. Dazu zählen etwa positive Selbstgespräche, Selbstwert, Selbstschutz, Regenerationsphasen und das Wissen darum, dass es nicht immer funktionieren kann, dass man mit Fehlern umgehen kann - und dies stressresistenter macht. „Ich bin ein Freund der positiven Leistungskultur“, sagt die Verbandspsychologin. „Die Sportler*innen müssen Spaß und Lust auf Herausforderungen haben und zeigen wollen, was sie können.“ Die Schaffung eines sicheren Trainingsumfeldes ist dafür eine grundlegende Bedingung.
Weitere Informationen und Ansprechpersonen zum Thema finden Sie auf der DEU-Safe Sport-Seite.
Text: Pamela Lechner